Friesenrecht

Kapitel 2 – Modder & Schlick

 

Gemütlich tuckerte der Karren der Wiards den schmalen Trampelpfad entlang. Links und rechts standen vereinzelte Bäume und einige Möwen kreisten Futter suchend in der Luft und gaben bisweilen ein Möwenjaulen von sich. Okko hatte die Zügel fest in der Hand und trieb damit den alten Ackergaul an, der ihren Wagen zog, während Hinni und Leevke hinten im Karren saßen und vor sich hin dösten. Hinni verschränkte die Arme hinter dem Kopf und kaute auf einem alten Hühnerknochen. Klütje, der Küstenhund hatte sich eingeigelt und lag auf Leevkes Schoß, wo er herzhaft schnarchte. Leevke streichelte ihn derweil und begutachtete die Umgebung mit den Augen einer Fremden. „Du warst noch nicht oft an Land, oder?“, wollte Hinni schließlich wissen und beförderte den Knochen in seinen linken Mundwinkel. „Merkt man das so deutlich?“, meinte Leevke leicht verschämt. „Nunja, wer den ollen Deichschafen an den Kopf packt und sie hin und her schüttelt...“ „Ich dachte es wären friedliche Tiere. Allein wegen der wuscheligen Wolle...“ Hinni lachte auf und meinte übertrieben vornehm: “Der Schein kann manchmal gar trüglich sein, Verehrteste.“ Leevke lächelte daraufhin: „Ach ja?“ „Jopp. Denk doch nur mal an die alten Fennen! Die sehen auch aus wie alte Omas, sind aber verdammt gefährlich.“ „Fennen? Was, oder wer, soll das denn sein?“ Hinni seufzte und setzte zu einer langen Erklärung an. Okko nahm ihm dies ab: „Fennen sind Geister die sich des nächtens auf den Feldern und den Mooren umher treiben. Sie sind so dürr wie Äste, klapprig und wirken mehr wie Skelette als wie Menschen. Sie wanken durch die Nacht und rufen ganz leis’: Moiiin. Und wer dann nicht ebenfalls Moin sagt, wird ihr nächstes Opfer. Sie rasen an dich heran und wenn dich ihr Anblick nicht zu Tode erschreckt, so tun es ihre Krallen, mit denen sie sogar durch Eisen dringen können. Ich kenne keinen, der je einen solchen Angriff überlebt hat.“ Hinni und Leevke tauchten nun links und rechts  hinter Okko auf. „Und warum hält es sie auf, wenn man Moin sagt?“, wollte Leevke wissen. Okko zuckte mit den Schultern: „Wer weiß das schon genau? Es ist ja nicht so, dass sie mit einem reden würden. Manch einer behauptet sie wollen auf diese Weise erfahren ob ihr Opfer ein Friese ist oder ein Fremdling. Gewissermaßen würden sie dann die Friesen verschonen, und Fremde töten. Einige halten sie daher für Schutzgeister Frieslands.“ „Und du Papa?“, wollte nun Hinni wissen. „Ich? Hmmm. Also ich denke, sie wollen nur herausfinden ob ihr Opfer den Mut hat ihnen zu antworten. Wenn du kein ordentliches Moin zustande bekommst, weil du vor Angst wie gelähmt bist, dann biste auch ein leichtes Opfer. Es wäre also eine Art Test.“ Okko winkte energisch ab: „Aber dass ist ja auch wurscht. Sowieso sollte man in der Nacht nicht mehr in der Pampa umhergeistern und wenn, dann nicht alleine und ohne Fackel. Es gibt noch mehr Mistviecher die hier ihr Unwesen treiben.“ „Klingt ja ziemlich gefährlich.“, gab Leevke zu und schien ein bisschen zu schrumpfen. „Ach!“, meinte Hinni und klopfte sich auf die Brust: „Ich beschütze dich! Und wenn es sein muss, nehme ich es auch mit einem Drachen auf!“ Leevkes Augen glänzten: „Wirklich?“ Hinni nam nun eine heroische Pose ein und zückte sein Friesenmesser. Er fuchtelte damit wild in der Gegend herum. „Du magst es wohl nicht glauben, aber ich bin ein von Meisterhand trainierter Kämpe, der über die einen oder anderen Tricks verfügt!“ Okko verdrehte die Augen. „Und warum hast du sie nicht gegen Treibholz-Theo eingesetzt?“, wollte Leevke spitzbübisch wissen. Hier geriet Hinni ins Stottern und meinte verlegen: „Ach das! Ich hatte schon einen Kampf hinter mir, weißt du? Und...ähmm... der Boden! Genau, der sandige Boden war kein guter Untergrund zum Kämpfen!“ „Du bist doch Deichfriese, du bist auf dem Sand geboren, Hinni!“, warf Okko ein. „Fall mir doch nicht in den Rücken, Papa!“, flehte Hinni und Leevke musste daraufhin laut auflachen. Nun war Hinni wieder beleidigt und verschränkte die Arme vor der Brust und starrte demonstrativ nach hinten: „Dann eben nicht.“. Leevke gab ein mitleidvolles „Ohhh.“ von sich und lächelte. Sie näherten sich nun Norddeich, einem der wichtigsten Häfen Ostfrieslands und damit ein beliebter Warenumschlagplatz der hiesigen Bauern und seefahrender Händler aus aller Welt. Hier befand sich auch einer der Standorte der Deichwacht, welche über eine eigene Flotte verfügte um Eindringlinge abzufangen und abzuwehren, welche versuchten friesischen Boden vom Seeweg aus zu erobern. Auf dem Hafengelände war wie üblich einiges los und dickbäuchige Handelskoggen löschten hier ihre Waren und beluden sich erneut mit Schafsfellen, Tuchen und anderen Gütern. Sie ankerten in einer eigens dafür gegrabenen Kuhle, in der auch bei Ebbe noch genug Wasser vorhanden war, damit die Schiffe nicht aufliefen. Dennoch mussten sie die nächste Flut abwarten, ehe sie weiterfahren konnten. Just aus diesem Grund hatten die Friesen sehr oft flachbäuchige Schiffe im Einsatz, die bei Ebbe nicht umkippten, wenn sie denn auf diese Weise stranden würden. Der Ort selbst bestand aus einigen Hütten welche mehr oder weniger halbmondförmig mit Öffnung Richtung Hafen angeordnet standen. Dort standen dann auch die zig Lagerhäuser in denen die Händler ihre Waren lagerten um sie schnell verkaufen zu können, wenn sich denn eine günstige Gelegenheit ergab. Wachposten gingen an den Lagern auf und ab um Plünderer davon abzuhalten sich an dem Gelagerten zu vergreifen. Auf einer Warft, unweit von den Hütten Norddeichs entfernt und somit auf erhöhter Position, befand sich der Stützpunkt der örtlichen Deichwacht und Okko brachte den Karren direkt vor dessen Eingangstüren zum  Stehen. Zwei mit Speeren bewaffnete Männer flankierten das Eingangstor. „So, meine Herrschaften. Da wären wir. Ich werde nun dem Deichmeister Bescheid geben, dass sie das Schiff abschleppen können, und werde außerdem einige Besorgungen machen. Ihr könnt in der Zwischenzeit nach Kleene Wacht gehen.“ „Gehen?“, fragte Leevke verwundert nach als sie vom Karren hüpften. Hinnis Augen weiteten sich: „Ochne.“ „Oh doch.“, meinte Okko mit einem schelmischen Grinsen, welches recht untypisch für jemanden wie ihn war, „es ist Ebbe.“. Leevke klatsche in die Hände und hüpfte aufgeregt hin und her: „Heißt das, wir gehen wattwandern?“ „Ich wüsste nicht was daran so toll ist.“, meinte Hinni mürrisch.  „Wieso? Ich fühle gern den weichen Boden unter meinen Füßen. Und überall wimmelt es von Tierchen! Ich find sie niedlich!“ „Niedlich??“, meinte Hinni ungläubig, „Da wimmelt es von gefährlichem Getier und wenn du nicht aufpasst, ertrinkst du in einem der Priele!“ „Und du wolltest es mit einem Drachen aufnehmen?“, stichelte Leevke. Hinni schwieg kurz, dachte darüber nach und meinte dann: „Du hast recht! Gehen wir!“ „Oi, Hinni!“, rief Okko und warf Hinni einen Beutel zu. „Hier ist etwas Geld für den Wattführer.“ „Aber wir können doch auch selbst....“,warf Hinni ein. „Nein! Ihr nehmt einen Führer und damit hat’s sich! Kapiert? Das war ein Befehl! Und dieser gilt ganz besonders für dich, junger Mann.“ „Jaja...“, murmelte Hinni. „Wie war das?“ Okko hielt sich eine Hand an das Ohr und tat so als würde er lauschen. „Ja, Papa. Tut mir leid.“, meinte Hinni laut und deutlich. „Schon besser. Und nun ab mit euch. Viel Glück, Leevke. Grüß deine Großeltern von uns.“ „Werde ich machen, Herr Wiards. Nochmals vielen Dank für eure Hilfe!“, erwiderte Leevke und verbeugte sich höfisch. „Na dann mal los.“, grinste Leevke und nahm Hinni bei der Hand. Gemeinsam liefen sie zum Strand und fanden sogleich den „Modder-Joost“, einen der erfahrensten und besten Wattführer der Gegend. Seine Klamotten waren vom Watt verdreckt, sein Gesicht war bärtig und wettergegerbt, doch seine Augen strahlten in einem hellen blau und voller Energie.

 „Ich kann euch nur bis nach Norderney bringen, von da aus werden wir dann mit meinem Boot weiter bis nach Kleene Wacht segeln. Einverstanden?“ „Wüsste nicht, was es daran auszusetzen gäbe!“, meinte Hinni und gemeinsam sahen sie noch wie Leevke inzwischen einem Taschenkrebs nachstellte und ihn nachahmte. Klütje wirbelte auch umher und kläffte schwanzwedelnd durch die Gegend. „Sie ist nicht von hier oder?“, fragte Modder-Joost irritiert und Hinni seufzte nur: „Insulaner.“, woraufhin Modder-Joost zerknirscht erwiderte er wäre ebenfalls ein Inselbewohner. Im selben Atemzug entschuldigte sich Hinni dann auch gleich wieder. „Na dann mal los, ihr beiden Turteltauben.“, grinste Modder-Joost, woraufhin Hinni und Leevke im Chor riefen: „Wir sind kein Paar!“ „Natürlich seit ihr das nicht. Also los. Und passt auf Zehenbeißer auf!“ „Wieso?“, hakte Leevke nach. „Na, weil die euch in die Zehen beißen! Es sind bösartige, bissige Muscheln die auch bei Ebbe noch zuschnappen und ansonsten meist kleine Fische fressen. Vor allem du solltest aufpassen Mädchen, immerhin läufst du barfuss durch die Weltgeschicht'.“ „Ich mag halt keine Schuhe oder Stiefel. Es fühlt sich immer so an als ob meine Füße ersticken würden...“ „Und was ist mit Sandalen?“, wollte Hinni wissen während sie sich immer weiter vom Norddeicher Hafen entfernten. „Geht gerade noch so.“ „Ahja.“, meinte Hinni nur und pfiff Klütje zurück, der einem Wattläufer nachgejagt hatte. Dabei war just der Küstenhund derjenige der sich am wenigsten Sorgen machen musste. Zumindest was die Flut und tödliche Strömungen anging, denn als Küstenhund war er mehr im Wasser als an Land zu hause. Im Watt lebten vor allen Dingen kleine Tiere, u.a. viele Arten von Würmern, Krebsen und Muscheln. Allerdings gab es auch für Menschen gefährliche Tiere wie die Riesenschlickkrebse, die Picker-Möwen, die von Joost schon erwähnten Zehenbeißer (von denen manche sehr, sehr groß  werden konnten) sowie die gigantischen, aber zum Glück seltenen Dünenwürmer. Hinni hatte kein Interesse an einer solchen Begegnung, aber er stellte sich sehr gerne vor, wie er eine dieser Kreaturen abwehren würde, um Leevke zu beschützen. Dann würde sie ihm dankbar sein und - ihm einen Kuss verpassen...

„Hast du was?“, wollte Leevke plötzlich wissen und Hinni lief der Kopf hochrot an. Er wischte sich über den Mund. „Hast du... gesabbert?“, wollte Leevke sogleich wissen. „Nein!“ „Macht nichts, zuhause gibt es sicher was Leckeres. Ist zwar alles sehr salzig, aber so ist das nun mal wenn man außer Meer nichts um sich hat. Da ist ALLES aus oder mit Salz.“ Hinni war recht froh, dass Leevke dachte er hätte gesabbert weil er so einen Hunger hätte. Leevke hüpfte schon wieder regelrecht umher und stellte Modder-Joost viele Fragen über die Geräusche, die kleinen Sandhügelchen überall, die Tiere die im Watt lebten und die Aufgaben eines Wattführers. Joost beantwortete sie ausgiebig und mit einer spürbaren Liebe zum Watt und seinen, manchmal gefährlichen, Bewohnern und Eigenarten. Hinni selbst kannte das meiste ohnehin, schon so manches Mal war er zu den Inseln gewandert um dort Besorgungen für den Hof Wiards zu machen. Langsam aber sicher näherten sie sich der Insel Norderney, die für ihre großen Muschelbänke bekannt war, aus welchen unter anderem der berühmte Muschelmörtel gewonnen wurde. Die Insel wirkte zwar recht nah, war aber in der Tat noch einige Stunden entfernt. Wenn sie sich zulange Zeit ließen, liefen sie Gefahr von der Flut überrascht und ins offene Meer hinausgespült zu werden. Und dort überlebte niemand allzu lange. Als sie sich nun dem Sandstrand näherten blieb Modder-Joost abrupt stehen und seine Stimme signalisierte Gefahr in jeder Silbe: „Stehen bleiben! Sofort!“ Leevke stand mit einem Bein da und versuchte ihr Gleichgewicht zuhalten, doch setzte den Fuß langsam auf, als sie merkte, dass sie so nicht stehen bleiben konnte. Sogar Klütje blieb im Watt stehen, hob eine Pfote an und wirkte angespannt. Sein spitzer Schwanz stand senkrecht nach oben.„Was ist?“, zischte Hinni, und Joost verwies mit seinem Stab auf zwei größere, 2 Schritt große Hügel, die sich mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu bewegten. Sie wühlten das Watt auf und schoben es wie eine Lawine vor sich her. Gleichzeitig verdichtete sich das omnipräsente Klickern und Klackern in der Luft zu einem ohrenbetäubenden Lärm, sodass Leevke und Hinni sich die Ohren zuhalten mussten. Die wandernden Hügel kamen sehr dicht an sie heran, und Hinni fingerte nervös nach seinem Friesenmesser. Die einzigen Tiere die solch einen Krach machten und so groß waren, waren die Riesenschlickkrebse. Ihre kleinen Vertreter die Schlickkrebse waren keine Gefahr für einen Menschen oder überhaupt für irgendetwas anderes als Plankton, aber diese hier griffen sogar Menschen und Boote an, wenn diese auf dem Watt aufgelaufen waren. Ihre zwei sensenartigen Klauen nutzten sie um ihre Beute in ihr mit scharfen Zähnen gesäumtes Maul zu ziehen um sie dort aufzufressen. Riesenschlickkrebse wurden so groß wie ein Mann und mit den Klauen so lang wie eine Schnigge. Sie reagierten bei Ebbe insbesondere auf Erschütterungen im Watt und konnten sehr genau die Position der Geräusche bestimmen. Nur wenn man sehr langsam durchs Watt schritt, konnte man die Entdeckung der Schlickkrebse vermeiden. Aber soviel Zeit hatte man aufgrund der Flut ja nicht und obendrein waren die Riesenschlickkrebse nicht so zahlreich. Es war nun natürlich Pech, dass ausgerechnet zwei davon ihren Marsch mitbekommen hatten. Hinni spannte seine Muskeln an, als die zwei wandernden Hügel kurz vor ihnen inne hielten und dann aufeinander prallten. Modder und Matsch explodierte förmlich als die beiden Krebse aus dem Watt empor sprangen. Leevke schrie und instinktiv positionierte Hinni sich vor ihr. Klütje bellte sein bestes, aber der Küstenhund sah schnell ein, dass er gegen die riesigen Krebse und ihren Chitinpanzer nichts ausrichten konnte. Sie wurden förmlich mit Modderbrocken bombardiert und alle drei Menschen hielten sich schützend die Arme vor die Köpfe und Gesichter. „Wir müssen angreifen!“, brüllte Hinni Modder-Joost zu doch der blickte erstaunlich ruhig und rief zurück: „Bloß nicht!“ und zeigte hektisch in Richtung der Krebse die nur wenige Meter von ihnen wüteten. Nun sah Hinni, dass die Schlickkrebse gegeneinander kämpften. Der größere, rechte von beiden hatte seine Klaue im Panzer des jüngeren, linken versenkt und dunkelgelbes Blut schon daraus hervor, wie Hafergrütze. Die beiden Krebse wühlten das Watt um sich herum stark auf und es dauerte nicht lange und Hinni, Leevke, Joost und Klütje waren vollkommen mit Watt-Modder übersäht. Nun verstand Hinni erneut wieso man so viele Wattwanderer mit dem Beinamen Modder versah. Sie waren einfach dauernd darin eingehüllt. Sie alle wirkten wie Schneemänner, als der jüngere Schlickkrebs endlich den Rückzug antrat. Mit seiner Wunde würde er jedoch nicht weit kommen. Der größere Krebs stieß als Zeichen seines Triumphes ein Heulen aus noch lauteren Klackerlauten aus, sodass Klütje sich gezwungen war aufzuheulen. Zum Glück hatten Schlickkrebse ein miserables, akustisches Gehör, sodass der Schlickkrebs ihn überhörte. Danach hob der Krebs seine beiden Klauenarme in die Luft und schlug sie aneinander, um seinen Sieg überall im Watt kundzutun. Außer ein paar Möwen die gelangweilt am Himmel kreisten hörte es wohl niemand sonst. Zufrieden tauchte der Schlickkrebs mit einem kleinen Hüpfer ins Watt zurück und entfernte sich immer weiter von der kleinen Reisegruppe.

 

„So was erlebe selbst ich nicht alle Tage!“, meinte Modder-Joost erstaunt und mit einem Anflug von Neugier. „Und ich bin ganz froh darüber! Haha!“

„Ich finde das nicht halb so lustig.“, murmelte Hinni und begann sich den Modder vom Körper zu wischen. „Alles in Ordnung, Leevke?“ Er bekam nur Gemurmel zurück und sah nun, dass Leevke vollkommen mit Modder bedeckt war. „Ach du meine Güte! Joost, hilf mir!“

Gemeinsam konnten sie Leevke vom Morast befreien und als erstes schnappte sie nach Luft.

„Alles in Ordnung?“, wollte Hinni sofort wissen. Leevkes Antwort kam stoßweise: „Das – war – unglaublich!“ „Ja nicht?“, bestätigte Joost begeistert, „ein Kampf zwischen zwei Schlickkrebsbullen, dass sieht man nicht alle Tage!“ „Ich fand es aber traurig, dass der kleine besiegt wurde! Er tat mir richtig leid...“ Joost zuckte mit den Schultern: „So ist das nun mal in der wilden Natur. Der Stärkere gewinnt.“ Hinni war leicht entrüstet: „Wie bitte? Ihr fandet dass toll? Die hätten uns um ein Haar gemeinsam umgebracht, und du, Leevke, wärst beinahe am Modder erstickt, und ihr findet das auch noch „interessant“? Seid ihr bekloppt?“ Leevke und Joost blinzelten, als ob sie gar nicht verstanden hätten was Hinni gesagt hatte. „Ach vergesst es!“, winkte Hinni energisch ab und hob den erstarrten Klütje hoch und wusch ihn mit etwas Prielwasser ab. „Klütje und ich fanden dass auf jeden Fall sehr schrecklich. Nicht wahr Klütje?“ Der Küstenhund kläffte zur Bestätigung. „So.“, meinte Joost schließlich,“ Ich denke wir können dann weiter. Ich seh den Krebs nicht mehr, und auf der Insel werden wir uns dann richtig säubern und was Leckeres essen!“ Und als sein Magen knurrte, wusste Hinni, dass er nun wirklich Hunger hatte. „Und mit dir alles in Ordnung, Hinni?“, wollte Leevke wissen, deren Haar vom Modder noch ziemlich verklebt waren. „Mir geht es bestens!“, log Hinni, „Unser weiser, und offensichtlich verrückter Wattführer geht voran, also was sollen wir hier noch lang  rumstehen.“ „Hattest du denn keine Angst?“ „Ich? Nein. Wieso? Du denn?“ „Ich wusste, dass die beiden uns nichts tun würden.“ Hinni war erstaunt: „Wie? Woher?“ Leevke blickte gedankenverloren in die Luft, als ob sie nachdenken würde: „Ich weiß es nicht genau, aber ich hatte es im Gespür. Die Art wie sich bewegten, das Klackern und Klickern... alles an ihnen sagte es mir.“ „Kannst du jetzt mit Tieren reden?“ Leevke lächelte: „Nein.“ „Machen wir den Test. Klütje! Sag was!“ Hinni hielt Klütje direkt vor Leevkes Gesicht und dieser kläffte einmal. „Und? Was sagt er?“ „Ich denke... so etwas wie.... Hallo?“ „Hmmm...“, murmelte Hinni und setzte Klütje wieder ab. „Was soll ein Küstenhund auch schon großartig sagen.“, meinte Leevke und lächelte. „Stimmt auch wieder.“ „Los ihr beiden Wattschnecken! Oder wollt ihr warten bis die Flut kommt?“, rief ihnen Modder-Joost zu, schon einige Meter weiter.

 

Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie alle vier zusammen das rettende Ufer von Norderney. In dem kleinen Fischerdorf, welches auf einer Warft lag besuchten sie das einzige Gasthaus und Hinni spendete allen ein paar Teller Fischsuppe und etwas Brot. Joost bedankte sich und stand schließlich auf um mit einem Fischer zu reden, der sie nach Kleene Wacht bringen sollte. Hinni, Leevke und Klütje streckten solange ihre Glieder und lümmelten vor dem Kamin der Gaststube herum, in der ein kleines Feuer glomm und Wärme spendete. Es war noch früh mittags und außer ihnen war niemand sonst in der Gaststube, außer dem Wirt und seiner Frau natürlich. „Warum lebst du eigentlich mit deinen Großeltern zusammen?“, fragte Hinni unbefangen. Leevke wirkte daraufhin deprimiert und mit leiser Stimme meinte sie: „Meine Eltern sind nicht mehr.“ Hinni realisierte nun, dass er ein offenbar heikles Thema angesprochen hatte und bereute seine Neugier umgehend. Er schwieg, aber Leevke erzählte weiter: „Ich kann mich nur noch sehr schwach an meine Eltern erinnern, oder wo ich vorher gelebt habe. Ich weiß nur, dass wir umgeben von Meer und Wasser waren. Immer wenn ich am Meer bin, erinnert es mich an damals. Meine Eltern haben mich sehr geliebt, dass vermag ich noch zu sagen. Ich war ein glückliches Kind...“ Hinni räusperte sich verhalten: „Was ist dann passiert?“ Leevke schüttelte den Kopf: „Ich weiß es nicht mehr. Aber Oma und Opa erzählten mir, dass meine Eltern bei einem Unwetter auf See ertranken und nur ich in einem Holzkorb überlebt habe. Man fand mich, und anhand meiner Augen und Haare wurde ich zu den nächsten Verwandten gebracht, nach Kleene Wacht zu meinen Großeltern, den Pultjens. Es muss schrecklich gewesen sein, denn ich erinnere mich an so gut wie nichts mehr aus dieser Zeit.“ Leevke hielt kurz inne und fragte dann verängstigt: „Meinst du Oma und Opa geht es gut? Immerhin meinte Treibholz-Theo doch, er hätte an diesem Tag genug Blut gesehen? Glaubst du er meinte das Blut von...?“ Hinni wurde sich seiner Position als beruhigender Pol bewusst und wedelte mit seiner Hand in der Luft. Mit einer Stimme die mehr Sicherheit verhieß, als er selber fühlte meinte er: „Ach, Theo. Dieser Arsch redet bestimmt immer so um seine Feinde einzuschüchtern. Ist alles bloß Schau. Glaub mir, diese Art Räuber ist mehr Schein als Sein und würde nur im äußersten Notfall zu Gewalt neigen. Ihr ganzes Kapital ist die Abschreckung von Händlern und Fischern. Deinen Großeltern geht es sicher gut.“ „Und wenn nicht?“, meinte Leevke, zog die Beine an sich heran und verschränkte die Arme auf den Knien. Mit traurigen Augen blickte sie in die kleinen Flammen im Kamin. Hinni wollte ihr anbieten, dass sie dann ja auf Hof Wiards leben könne, aber er ließ es dann doch lieber. Nichts sollte die Hoffnung des Mädchens zunichte machen, auch nicht die Aussicht auf ein anderes Leben, falls ihre Großeltern doch tot wären. Klütje, ganz der empathische Küstenhund der er war, sprang an Leevkes Stuhl hoch und sie nahm ihn sogleich auf den Arm wo er sich schwanzwedelnd von ihr den Bauch kraueln ließ. Leevke lächelte wieder sanft. „So wirkt sie wie eine Mutter mit einem Baby auf dem Arm.“, dachte Hinni in einem Anflug von – ja von was eigentlich? Hinni schüttelte schnell seinen Kopf um aufkommende Gedanken schnellstmöglichst zu vertreiben. Zum Glück kehrte Modder-Joost in diesem Moment zurück: „Alles klar, Kinder. Der olle Grummel-Gerd bringt euch rüber!“

 

 

„Und ihr sagt, dass Mädchen habe die Kraft das Wasser zu kontrollieren? Das Meer, die Gezeiten?“ Der Wind pfiff so kalt und unbarmherzig, dass Theo nicht aufhören konnte zu zittern. Er kniete mit dem Kopf auf den kalten Steinen vor dem untoten Friesenkönig. Manch einer hätte dies als schwere Scham und Erniedrigung empfunden, aber so wie Theo es sah, war es ein notwendiger Schritt um seine Zukunft nicht leichtfertig zu verspielen. Und wer wusste schon, wie dankbar der Friesenkönig letztlich sein würde? Immerhin hatte er allerhand Schätze und einen Untoten als Freund und Verbündeten zu haben, war auch kein Zustand den man verachten sollte. Theo fürchtete zwar ein wenig die Rache der Kirche, wenn er sich nun den Untoten anschloss, aber wenn es tatsächlich zu einer Konfrontation mit der Inquisition oder Ordensrittern kommen sollte, könnte er ja noch immer Buße tun und Reue zeigen. Selbst jemand wie Theo wusste, dass die Kirche lieber heimkehrende, schwarze Schafe bevorzugte als Häretiker und Ketzer die nur Probleme machten. Daher wähnte sich der Strandräuber recht sicher als er nun heuchelte: „Ja, mein König. Sie kann es, just darum war ich ja auch hinter ihr her!“ Der Friesenkönig war umringt von seinen untoten Kriegern, deren Knochen knackten und nur von unheiligem Zauber zusammengehalten wurden. Sie stöhnten leise, was im kreischenden Wind jedoch kaum zu hören war. Hier oben saß er auch zu Lebzeiten, auf dieser überdachten Plattform, die nach allen Seiten hin offen war. So konnte Radbod alles überblicken was sich seinem Turm näherte, aber auch sein damaliges Reich. Einst herrschten die Friesenkönige über die nun freien friesischen Seelande, doch sie wurden entweder in Schlachten gegen Eindringlinge getötet oder ins Exil getrieben. Die Selbstbestimmung und ihr Stolz waren den Friesen letztlich wichtiger als ein gemeinsamer Lehnsherr. Radbod war einer der letzten Friesenkönige und er war sogar ein guter König, jedoch ging er gnadenlos gegen jeden vermeintlichen Widersacher vor und schürte so den Unmut seines eigenen Volkes. Auch war er ein fanatischer Bekämpfer alles Christlichen und ließ Kirchen und Kapellen niederbrennen und Mönche und Priester gleichermaßen erschlagen. Er war den alten Göttern verbunden und auch dies beschleunigte letztlich seinen Niedergang. Denn aus dem Reich selbst drängten die christlichen Fürsten gegen die Friesen, und wollten ihre Länder mit Macht und Schwert vom heidnischen Joch befreien (und sich selbst ein paar Ländereien einverleiben). So kam es zu einer innerfriesischen Schlacht, bei der die Gefolgsleute des Heiden Radbods gegen die christlichen Friesen  unter dem Missionar Liudger kämpften und letztlich unterlagen. Mit Müh und Not gelang Radbod und einer treuen Schar die Flucht und er konnte sich noch einige Zeit im Raum Esens und der umliegenden Inseln halten. Doch auch hier holten ihn die Christen ein und nach harten Kämpfen in den Mooren und Wäldern (die Esener hielten immer noch an ihrem König fest und unterstützten ihn nach Leibeskräften) wurde Radbod erschlagen als er gerade mit seinen Booten zu seiner persönlichen Feste auf der Insel Bant segeln wollte. Schwer verwundet erreichten er und seine verbliebenen Männer die Insel und riefen dort die Geister der See und des Meeres an um ihm die Kraft zu geben sein Reich zurückzuerobern. Für den Preis ihrer Seelen sollten sie diese Macht bekommen, doch mit einem mächtigen Gebet bewirkte Liudger, dass Radbod seine Insel nicht mehr verlassen sollte. Liudger opferte für dieses Gebet sein Leben. Sein Ziel jedoch war erreicht: Die Heiden waren vertrieben und der Kaiser selbst befahl den Fürsten von einer Invasion Frieslands abzusehen, da sie nun (wieder) Christen waren und wohl auch bleiben würden. Bant war seitdem eine verfluchte Insel und niemand klaren Verstandes wagte sich dorthin oder auch nur in die Nähe.  Erst jetzt dämmerte Theo diese Geschichte. Leider hatte er sich von seiner Gier blenden lassen und keine Sekunde darüber nachgedacht, dass er sich in die Höhle des Löwen gewagt hatte. Zum ersten Mal verfluchte Theo seine Rücksichtslosigkeit die ihm bis dato gute Dienste geleistet hatte. „Du wirst uns dieses Mädchen bringen, Räuber! Denn wir können nicht fort von hier.“ „Ihr wollt mich gehen lassen?“ In Theo keimte die Hoffnung auf, dass er einfach abhauen konnte, sobald er an Land war. Theo hob den Kopf und sah zu seiner Beunruhigung ein wissendes Grinsen auf den zerbröselten Lippen Radbods: „Du wirst an Land gehen, Theo.“ Nun erhob er sich und schritt auf Theo zu. Irgendetwas lief nicht zu Theos Gunsten, dass spürte er instinktiv. Es waren dieselben Instinkte die ihn all die Jahre davor bewahrt hatten von einem seiner ehrgeizigen Männer im Schlaf erstochen zu werden, damit dieser die Führung übernehmen konnte. Doch diesmal blieb es bei dem Instinkt, denn schon hielten ihn zwei, der schwer gepanzerten Skelette fest. „Was wird das hier? Ich habe euch doch zugesagt! Geht ihr so mit euren Untertanen um?“ „Untertanen?“, Radbods wirkte überrascht und gar etwas gekränkt: “Wenn ich etwas aus den Jahren meiner Königsherrschaft gelernt habe, dann das man sich der absoluten Treue seiner Vasallen versichern muss. Sieh sie dir doch an.“, meinte der König und verwies mit einer ausladenden Geste auf die Untoten um sich herum. „Sie sind mir treu bis in den Tod. Welch ein König wäre ich, wenn ich unser aller Zukunft einem Nicht-Vasallen anvertrauen würde? Meine Männer wären zutiefst enttäuscht. Es gilt gewisse Standards aufrechtzuerhalten.“ Theo lief es heiß und kalt den Rücken runter. „A-Aber, mein König.“, versuchte er sich zu retten, „Wenn ich einer eurer V-Vasallen werde, werde ich diese Insel doch ebenso wenig verlassen können wie ihr?“ Radbod blieb ungerührt: „Oh keine Sorge. Ihr werdet kein echter Vasall. Doch ich brauche eine Garantie, dass ihr euer Wort haltet.“ „Eine Garantie?“ Theo liefen die Schweißperlen von der Stirn, als Radbod seinen rechten Arm nach hinten schlug und brüllte: „Ich brauche einen Faustpfand!“ Mit diesen Worten schnellte sein Arm nach vorne, durchdrang mühelos Theos Rüstung, Kleidung, Haut und Knochen. Eiskalt umklammerte Radbod nun Theos Herz und mit einem Ruck zog er es heraus. Theo spürte sein Herz nun nicht mehr schlagen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, als hätte alle Zeit und Welt aufgehört zu existieren. Die Welt schwieg. Theo sah noch sein eigenes, schlagendes Herz in den Händen des Friesenkönigs, und zackte zu Boden. Würde er so sterben? Theo hatte immer mehr Probleme zu denken, ein dunkler Schleier legte sich um seinen Geist. Wie aus einem Tunnel heraus hörte er die Stimme Radbods: „Willkommen in meinem Heer.“ Ein Blitz durchzuckte Theo nun und er wurde förmlich ins Leben zurückkatapultiert. Er schnappte nach Luft wie ein Fisch und stieß einen Schrei aus, der sogar durch den Wind hindurch bis zu den nächsten Inseln erschallte. Er lebte, aber sein Herz pochte nicht mehr. Stattdessen war dort etwas anderes, fremdes. Er spürte wie es in seiner Brust zuckte und es sich bequem machte. „Waaa“, röchelte Theo und kam wankend wieder auf die Beine, „was habt ihr mit mir gemacht, Bastard?“ „Obacht, Theo.“, mahnte der Friesenkönig, „stellt meine Geduld nicht auf die Probe.“ Mit diesen Worten zeigte Radbod ihm erneut sein Herz, das von einem gelblichen Leuchten umgeben war und immer noch schlug. „Wieso lebe ich noch?“, meinte Theo, der nun bemerkte, dass er die Welt mit anderen Augen sah. Seine Sicht war klarer, beinahe messerscharf, egal wohin er auch blickte. Dafür schien alles Leben und Farben aus der Umgebung gewichen zu sein. Alles wirkte nun matt und bleich. „Ihr tragt statt eures Herzens nun eine Seelenkrake in eurer Brust.“ „Was für ein Ding?“ „Es ist ein Geschenk meiner Göttin und verbindet mich mit jedem der sie trägt. Solltet ihr also versuchen mich zu hintergehen oder mich zu verraten, werde ich euer Herz zertrampeln und die Seelenkrake wird solange an eurem Verstand nagen, bis ihr wahnsinnig werdet. Habt ihr mich verstanden?“ Theo brauchte einige Sekunden um die Situation zu erfassen. Offenbar hatte im der Friesenkönig eine Art Versicherung eingesetzt, damit Theo nicht so ohne weiteres entschwinden konnte. Er kombinierte schnell: „Aber wenn ich euch das Mädchen bringe, welches das Meer beherrschen kann...“ Radbod nickte gönnerhaft: „Dann sollt ihr euer Herz zurückbekommen und als freier Mann zurückkehren. Wo auch immer ihr hin zurückkehren wollt.“ Theo nickte langsam, immer noch mit weit aufgerissenen, ungläubigen Augen. Dann schließlich übernam der Pragmatiker in ihm wieder die Überhand: „Ich brauche ein Boot.“ Theo fühlte sich auf einmal um einiges stärker und furchtloser. Er schritt zum Rand des Turmes, der Friesenkönig folgte ihm. „Ein Boot würde euch nichts nützen, es würde nach kurzer Fahrt untergehen, denn sein Holz stammt von dieser Insel und nichts von hier kann das Meer überqueren. Ihr müsst wohl oder übel gehen.“ „Gehen? Über dem Wasser?“ Radbod lächelte erneut: „Nein. Unter dem Wasser.“ Zu seiner eigenen Verwirrung verstand Theo dies auf Anhieb. War es die Seelenkrake in seiner Brust, die ihn lenkte? Es fiel ihm schwer seine eigenen von den Gedanken der Krake zu trennen. „Nehmt dies Gold für etwaige Ausgaben.“, meinte Radbod und ein Skelett in zerfetzten Kleidern überreichte Theo einen entsprechenden Beutel. „Und nun geht, und kehrt nicht eher wieder bis eure Aufgabe erfüllt ist. Bringt mir das Mädchen!“ „Ja, mein König.“, kam es wie selbstverständlich aus Theos Mund. Und dann sprang er vom Turm. Der Wind pfiff ihm um die Ohren und immer schneller näherte er sich dem Boden des Burghofes. Sand und Steine wirbelten auf, als er mit beiden Beinen auf den Boden krachte. Er erhob sich langsam und war gar nicht verwundert, dass er diesen Fall ohne Blessuren überstanden hatte. So ging Theo aus dem verfallenen Burgtor, durch den Nebel, an den Strand. Vor ihm peitschten die Wellen die Gischt vor sich her. Es dämmerte, und Theo schritt in die Unweiten des Meeres hinab. Er wollte Luft holen, doch zu seiner Überraschung spürte er keinerlei Bedarf danach. Theo musste nicht atmen. Und auch die Orientierung war nicht so schwierig wie er dachte. Er sah alles um sich herum kristallklar und damit auch alle Fische, Pflanzen und die Abgründe und Hügel unter dem Meeresspiegel. Er wollte zwar unbedingt sein Herz wieder haben, aber für einen Moment genoss Theo die surreale Tour durch die Unterwasserwelt mit ihm als fremden Gast. Er hielt auf die nächste Insel zu. Dort würde er ein Boot stehlen und so weiter zum Festland segeln. Denn bei aller Liebe: Zu Fuß war man auch unter Wasser ziemlich lahm.

 

Grummel-Gerd spuckte ins Wasser und murmelte etwas in seinen nicht-vorhandenen Bart. Hinni konnte nur vermuten, wieso Grummel-Gerd seinen Spitznamen erhalten hatte und welche Ereignisse in seinem Leben ihn so miesepetrig gemacht haben mochten. Es schien allerdings auch nicht so als würde der Fischer von sich aus darüber reden. Leevke hingegen kannte ihn wohl und befragte den Mann Mitte dreißig und mit dem verkniffenen Mund munter über die Fangquote, die Ereignisse der letzten Tage und über das Wetter. Zu Hinnis Erstaunen gab  Grummel-Gerd bereitwillig Auskunft, wenn auch nicht sonderlich begeistert oder ausführlich. „Ihr kennt euch schon länger – Leevke?“, wollte Hinni schließlich wissen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. „Ja, der Grummel-Gerd kommt oft zu uns und verkauft dann Sachen die wir vom Meer nicht so einfach bekommen können. Brot, Früchte, Gemüs', Holz, Steine und dergleichen mehr.“ Hier stockte das Mädchen und wandte sich an Gerd: „Du, weißt du ob es meinen Großeltern gut geht?“  Grummel-Gerd legte den Kopf schief: „Gestern war doch dieser merkwürdige Sturm. Doch seitdem war ich nicht mehr da. Ich wollte eigentlich nun nachsehen. Was machste' überhaupt auf Norderney?“ Leevke erzählte dem Fischer die Erlebnisse und Hinni ergänzte wo er konnte, bzw. musste. „Das ist ja allerhand!“, meinte Gerd schließlich und mit einem plötzlich entschlossenen Gesichtsausdruck bat er Hinni das Segel in die Hand zu nehmen, während er zwei Paddel herausholte. „Haltet euch fest, Kinder!“, meinte er nur und kaum paddelte Grummel-Gerd los, schossen sie förmlich nur so auf Kleene Wacht zu. Der Wind wühlte in ihren Haaren und Hinni, Leevke krallten sich panisch an der Reeling und Seilen fest, da sie befürchteten von Bord zu fliegen. Klütje hatte sich schnellstens unten im Boot verkrochen und kauerte nun im Heck des Schiffes. Es schien Hinni so, als würde das Segel sie sogar behindern, anstatt sie zu beschleunigen, so kräftig war der Vorschub von Grummel-Gerds Paddelei. Kleene Wacht kam ihnen nun schnell näher, und es war wirklich nur eine kleine, felsige Insel mit einer abflachenden Seite. Dort befand sich auch ein kleiner, hölzerner Steg. Oben auf der Insel ragte der Leuchtturm empor, der Schiffen bei Nebel die Orientierung erleichterte. Neben dem Leuchtturm befanden sich noch eine kleine Hütte und etwas, dass ein Schuppen sein mochte. 

 

„Da ist Opa!“, rief Leevke plötzlich aus, „Und Oma!“ Tränen der Erleichterung kullerten dem Mädchen über die Wangen. Nun sah Hinni sie auch. Sie hatten Gerds Boot wohl schon von weitem gesehen und waren bereit sie zu empfangen. Wobei der Opa einen Schild und Speer in den Händen hielt. Nach den gestrigen Ereignissen war dies wohl eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. Grummel-Gerd schnaufte heftig: „Wir sind da!“ Gemeinsam dockten sie am Steg an und Leevke kletterte den felsigen Weg so schnell hoch, dass Hinni verdutzt stehen blieb: „Für jemanden der zeit seines Lebens am Meer verbracht hat, kann sie verdammt gut klettern.“ Leevke fiel derweil ihren beiden Großeltern in die Arme die ebenso erleichtert waren ihre Enkelin wieder in die Arme zu schließen. „Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht, Seestern!“, meinte Oma Hampke und drückte Leevke fest an sich. „Urg. Oma! Du erdrückst mich!“, meinte Leevke daraufhin. „Haben sie euch auch nichts getan? Treibholz-Theo und seine Kerle, meine ich?“, fragte Leevke und wandte sich an ihren Opa Enno. Er schüttelte den Kopf: „Nein, sobald sie gemerkt hatten, dass du im Boot verschwunden warst, haben sie uns fallen gelassen und sind direkt zu ihrem Boot geeilt. Dann kam dieser Sturm, und wir hatten schon das schlimmste befürchtet...“ Enno ließ es sich nicht anmerken (bzw. er wollte es nicht) aber auch im stiegen die Tränen in die Augen, woraufhin Leevke ihn auch umarmte. Nun traten Hinni, Klütje und Gerd hinzu. Klütje hüpfte als erstes um Oma Hampke herum: „Nanu? Wer bist du denn?“ „Sein Name ist Klütje und er gehört meinem Retter, Hinnerk Wiards!“, meinte Leevke voller Stolz. Alle Blicke landeten nun auf ihm, und er wurde innerhalb von einem halben Augenblick puterrot im Gesicht. Verlegen kratzte er sich am Kopf, auch wenn es ihn gar nicht juckte. „Das ist doch nicht der Rede werd, ich meine, ich hatte grad Deichpflicht und... naja... sie kam halt so angespült... wie das so ist...hö?“ Enno stand nun vor Hinni und blickte ihn dankbar an. „Du hast unser Kind gerettet und da ist es mir egal, wie und warum du es getan hast. Hauptsache es geht ihr gut und sie ist wieder zuhause. Dafür werden wir dir ewig dankbar sein.“ Mit diesen Worten umarmte er nun auch Hinni und klopfte ihm anerkennungsvoll auf die Schulter: “Das verlangt nach einem Fest! Naja, auch wenn die Feier recht klein ausfällt, aber ein Fest ist ein Fest, und wenn man es alleine feiern muss! Haha!“

 

 „Ach Opa!“, warf Leevke ein, „Hinni kann nicht solange bleiben. Er muss sicher wieder zeitig zurück nach Norddeich. Oder Hinni?“ Der Angesprochene überlegte kurz und während dieser Zeit entschied sich sein Magen ein Knurren von sich zu geben, dass seinesgleichen suchte. Alle waren mit einem mal still um diesem Geräusch zu lauschen. Dann lachte Opa Enno: „Wie soll er denn in diesem geschwächten Zustand nachhause kommen? Na kommt, Oma macht uns was Leckeres zu essen! Oder musst du wirklich schon nachhause?“ „Naja.“, gab Hinni zu, „Mein Vater ist da recht streng, und...“ „Ach, der alte Wiards, was? Grummel-Gerd und er könnten Geschwister sein. Wenn dein Vater sich darüber aufregen sollte, sag ihm nur der Enno von Kleene Wacht übernimmt die ganze Verantwortung. Sag ihm einfach ich hätte dich hier mit Gewalt festgehalten! Haha.“ „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist...“, meinte Hinni skeptisch, denn Okko neigte dazu, solche Dinge ernst zu nehmen. Er würde sich mit Sicherheit Sorgen machen, wenn er zulange wegblieb, andererseits wusste auch Okko genau um die manchmal widrigen Umstände im Watt und dem Meer Bescheid, sodass ein etwas längeres Fortbleiben nicht auszuschließen war. Okko hatte seinem Sohn genug Pfennige und Groschen mitgegeben um sicher nach Norddeich zurückzukehren. Außerdem ließ er manchmal durchblicken, dass er Hinni schon genug Vertrauen zubilligte, allein zu Recht zu kommen. Immerhin war Hinni 16 Sommer alt und trug schon sein Friesenmesser (mit Stolz). Wahrscheinlich würde Okko nach seinen Geschäften in Norddeich nach Hof Wiards zurückkehren und dort auf ihn warten. Genau so musste es sein. „In Ordnung.“, meinte Hinni schließlich und Enno lud auch Grummel-Gerd ein, der jedoch ablehnte. „Muss rechtzeitig zuhause sein, oder die Alte rennt malwieder im Kreis 'rum und fängt an die Insel auseinander zunehmen.“ Hinni begann zu ahnen wieso Gerd nicht gerade eine tanzende Frohnatur war, wie der unbekümmerte Modder-Joost, und diese Ahnung beinhaltete ausnahmsweise keine Seeungeheuer, Unwetter oder Seeräuber. „Schade, aber das ist ja nichts neues.“, meinte Enno munter und zu Hinni gewandt meinte er: „Geh du nur schon ins Haus, ich werde hier mit unserm Gerd ein paar Geschäfte tätigen.“ Hinni schritt rüber zu dem kleinen Häuschen aus dem nun verstärkt Qualm aus dem Schornstein emporstieg. Leevke winkte ihn freudig aus dem Türrahmen zu sich herein: „Komm Hinni! Es gibt Labskaus mit Algensalat!“ Sie sagte es so, als wäre es eine Delikatesse ersten Ranges, aber Hinni (und sein Magen) waren nicht wählerisch, zumindest nicht hier und jetzt. Die einfache Holzhütte bestand aus einem Flur der in den Hauptraum führte, wo sich Kamin, Kochstelle, Tisch und Stühle befanden (es waren eigentlich ein Stuhl und der Rest waren Hocker). An den Wänden hingen allerlei Netze, Harpunen, skelettierte Haifischmäuler und vielerlei mehr, was man hier draußen im weiten Meer sonst noch so benötigte. Links und rechts vom Flur befanden sich zwei Räumlichkeiten, dass eine war ein Schlafzimmer mit drei Betten, im anderen befanden sich der Waschzuber, Seifen sowie eine Tonne mit Regenwasser. Es war eine bescheidene Hütte, die aber viel Wärme und Behaglichkeit ausstrahlte. Dagegen kam im das große, hochgeschossene Gulfhaus der Wiards wie eine mächtige Halle vor. Oma Hampke brutzelte am Kamin, Leevke flitzte hin und her, und schnibbelte an dem notwendigen Gemüse herum. Dabei war sie ziemlich eifrig, denn Teile davon flogen nur so durch die Luft. „Setz dich ruhig auf den Stuhl, du bist heute unser Ehrengast.“, meinte Hampke freundlich und Hinni kam dieser Aufforderung zögernd nach. Er fühlte sich leicht unbehaglich und wusste nicht so recht, was man nun von ihm erwartete. Er hatte Leevke gerettet und man war ihm dafür dankbar, aber Hinni fühlte nun auch eine gewisse Enttäuschung in sich, die sich langsam von seiner Brust aus ausbreite, und sogar seinen immensen Hunger verbleichen ließ. Sobald er wieder zuhause war, würde er Leevke wohl kaum noch sehen. Hin und wieder wenn er in Norddeich wäre, oder gar auf Norderney, aber sonst... Er fühlte sich für sie verantwortlich und Hinni wusste wohl, dass es nicht nur darum ging Leevke zu beschützen, sondern auch um sich selbst etwas zu beweisen. Und nun endete es hier. Er würde ein Bauer werden wie sein Vater, der kurze abenteuerliche Ausflug war viel zu schnell vorüber gegangen. Nun durfte er wieder ein Jahr warten, bis die Likedeeler unter Störtefad, Michels und Wigbold neue Rekruten aufnahmen. Ein weiteres Jahr im alten Trott. Immerhin würde er ein paar neue Kniffe von Meister Abbo lernen. Wo Okko ein strenger und altmodischer Vater war, dort glänzte Abbo mit beeindruckenden Erzählungen, seiner Kampfkunst und liebevollen, kumpelhaftem Verhalten Hinni gegenüber. Nicht selten hatte Hinni sich gewünscht Abbo wäre sein Vater gewesen. Aber Okko trieb es nie zu bunt, und hinter der harten Fassade versteckte sich ein herzlicher Vater, welcher enorme Angst hatte sein Sohn würde einen Weg einschlagen, denn er späterhin bitterlich bereuen würde.

Als nun auch Enno die Hütte betrat, konnte das Essen beginnen. Enno holte sogar eine Flasche Burgunder hervor, welchen Hinni nicht ablehnte. „Die hat mir ein flämischer Seemann geschenkt, als ich ihn aus dem Wasser fischte. Sein Schiff war von einem Untier mit zig Fangarmen angegriffen worden, welches seit Jahrhunderten sein Unwesen vor der friesischen Küste treibt. Man sagt, es gehorche gar dem König Radbod, dem Unbeugsamen.“, erklärte Enno mit verschwörerischer Stimme. „Enno!“, meinte Oma Hampke mit vorwurfsvollem Blick, „Du musst nicht ständig diese Geschichten erzählen, sonst werden sie noch wahr – für uns!“ „Schon gut, schon gut.“, winkte Enno ab und wandte sich wieder dem Essen zu. Hinni probierte auch den von Leevke zusammengewürfelten Algensalat (mit einigen undefinierbaren Zusätzen), konnte sich aber nicht dafür erwärmen. Leevke hingegen schaufelte den Salat in sich hinein wie ein wildgewordener Torfstecher, und mit vollem Mund fragte sie Hinni: „Magste'd's'noch?“, und machte sich nach dessen Verneinung auch an seine Salatreste. „Leevke liebt Meeresfrüchte.“, meinte Hampke wie um ihre Manieren zu entschuldigen. „Merkt man.“, stimmte Hinni erstaunt zu, als Leevke das letzte Algenblatt aus dem hölzernen Teller schlürfte. Sie seufzte zufrieden und rieb sich den Bauch. Es hätte einen mächtigen Rülpser gegeben, wenn nicht Oma Hamke rechtzeitig ihre Hand vor Leevkes Hund gehalten hätte. Vorwurfsvoll meinte sie: „Deine Tischmanieren waren auch schon mal besser,  Algenleevke.“ Enno lachte auf: „Seit wann denn?“ Auch die anderen beendeten schließlich ihr Mal und Hinni bedankte sich für das Essen. Es dämmerte schon, und Enno machte den Vorschlag, dass Hinni heute bei ihnen übernachten konnte. Es gab ein Zimmer im Leuchtturm, welches er nutzen konnte. Der junge Mann sah keinen Grund wieso er jetzt noch nach Norddeich zurückkehren sollte und stimmte zu. „Allerdings gibt es da noch eine Sache die wir besprechen müssten.“, meinte Enno düster, „Es geht um den gestrigen Überfall und Leevke.“ Diese hob neugierig den Kopf: „Es geht um mich?“ Enno nickte langsam und Hampke nahm Leevkes linke Hand: „Es gibt da etwas, dass wir dir bisher nicht sagen konnten, aber nun bleibt uns wohl keine Wahl. Es wäre ungerecht von uns es dir länger zu verheimlichen.“ „Wir wollten dich nur beschützen, Seestern.“, meinte Enno ergänzend. „Ähhmmm...“, machte Hinni, „sollte ich dabei sein? Ich meine, wenn es etwas Privates ist, dann...“ In Wahrheit war Hinni genauso interessiert an Leevkes Schicksal wie jeder andere im Raum (ausgenommen Klütje, der sich vor dem Kamin eingeigelt hatte und vor sich hin schnarchte), aber er wollte es zumindest anbieten. Das gebot die Höflichkeit, wenngleich Hinni wahrlich kein Experte auf diesem Gebiet war. „Nein, Hinni darf es auch wissen.“, meinte Leevke nach einem kurzen Blick in seine Augen, wie um ihn zu prüfen.

 

So erzählten die beiden Großeltern von dem Tag, als sie gemeinsam auf Kleene Wacht einem Sturm trotzten. Es ward ein fürchterlicher Sturm, mit Blitzen, Donnern und gigantischen Wellen die peitschten und nach dem Land griffen. Es schien wie ein Weltuntergang, und der Leuchtturm selbst schwankte als die Wellen bis an seinen Fuß peitschten. Hampke und Enno zogen sich in seine Spitze zurück und befürchteten das schlimmste. Gegen Mitternacht ebte der Sturm endlich ab und die Sterne und der Mond schienen auf das nun gespenstisch ruhige Meer. Während Enno die Schäden an Haus und Schuppen betrachtete, suchte Hampke am schmalen Ufer nach weggespülten Gegenständen und Lebensmitteln. Im Schein des Mondes sah sie nun einen menschengroßen Eisblock. Sie schaute sich in näher an, als sie im inneren etwas gewahrte. Sie erkannte darin Leevke, und traute ihren Augen nicht, als sie das Mädchen sachte Atmen sah. Sie schleppten den Eisblock zu sich in die Hütte und schmolzen das Eis langsam aber stetig mit dem Kaminfeuer. Als es Leevke schließlich am nächsten Tag freigab, war sie kaum am Leben. Sie wärmten sie so gut sie es vermochten, aber erst, als sie Leevke an einem sonnigen Juli-Tag ins warme Wasser stellten, wachte sie erst richtig aus ihrem Trance-artigen Zustand auf. Im Laufe der Zeit wurde Leevke immer lebhafter bis sie zum quirligen Mädel geworden war, dass sie heute ist. Sie war seitdem Tag kaum merklich gealtert, beherrschte aber keine Sprache und hatte den Wissensstand eines unbeholfenen Kleinkindes. Dafür lernte sie erstaunlich schnell und hatte bald das Wissen welches ihrem Äußeren angemessen war.

Schon früh wurde ihre Liebe zum Meer deutlich und sie schwamm oft und viel. Auch das Tauchen lag ihr sehr und oft konnte sie Dinge vom Meeresgrund retten, die Enno und Hampke schon als verloren abgestempelt hatten. Leevke schien sich an nichts zu erinnern was nun eigentlich passiert war, und wieso sie in einem Eisblock in der Nordsee trieb. Als sie selbst irgendwann nach ihrer Vergangenheit fragte, fiel den beiden Inselbewohnern die Geschichte von ihren angeblich verunglückten Eltern ein. Sie dachten, es wäre eine traurige, aber auch nicht so seltene Geschichte. Zudem schlossen sie Leevke sehr schnell ins Herz und wollten ihr alle Liebe angedeihen lassen zu derer sie sich fähig wähnten.  Aufgrund ihres ungewöhnlichen Äußeren und der kiemenartigen Schlitze am Hals versuchten Enno und Hampke sie möglichst vor den Menschen zu verstecken, die sie höchstwahrscheinlich als Hexe gebranntmarkt hätten. Entweder dies oder es wären zumindest solcherlei Gerüchte entstanden. Doch zu ihrem Erstaunen schwamm Leevke eines Tages, in einem Anflug von jugendlichem Erkundungsdrang, nach Norderney und erkundete den Ort auf eigene Faust. Hier lernte sie auch Grummel-Gerd kennen, der ihre Unerfahrenheit bemerkte und sie schließlich in seinem Boot zurück nach Kleene Wacht brachte. Von da an war Leevke ein gerngesehener Gast auf Norderney und die Insulaner machten keine Anstalten sich wegen ihr Sorgen zu machen. Sie wurde sogar zu etwas wie einem Markenzeichen der Insel. Enno verzichtete darauf die Norderneyer zu bitten, Leevkes Existenz nicht überall herumzuposaunen, hätte just dies die Verdächtigungen und Vorurteile erst ins Rollen gebracht. Außerdem waren viele Norderneyer überzeugt davon  „Schon merkwürdigeres gesehen zu haben. Besonders in Thule.“. Doch dies war erst der Anfang, denn immer mal wieder zeigte sich, dass das Mädchen besonders sein musste. Und immer hatte es etwas mit dem Meer und dem Wasser zu tun. Ob es nun Wasser war, welches Leevke durch eine Berührung „Golden“ machen konnte, sodass es danach heilende Wirkung entfaltete, oder ob es Meerestiere waren, die Leevke scheinbar aufs Wort gehorchten wenn sie sie um etwas bat. Manchmal saß sie auch nur am Strand und spielte fröhlich mit dem Wasser, welches sich zu schwebenden Kugeln formte. Enno und Hampke sahen schnell ein, dass dies zu einigen Problemen führen würde, wenn jemand davon erfuhr. Selbst die Norderneyer würden solche Kräfte nicht uneingeschränkt gut heißen oder unkommentiert lassen. Leevke selbst war sich vieler dieser Vorgänge gar nicht bewusst und sah es als gegeben an, dass sie sich so gut mit dem Meer verstand. Auch ließen sich diese Kräfte nie bewusst hervorbringen, immer geschahen sie „aus dem Bauch“ heraus, meist in Stresssituationen oder wenn sich Leevke alleine wähnte. Ihre Großeltern versuchten so gut wie möglich ihre Fähigkeiten vor der Welt zu verbergen, doch schließlich wurde sie doch entdeckt. Treibholz-Theo fragte explizit nach Leevke, der „Meereshexe“ als er am gestrigen Abend mit seinem Schiff Lisbeth nach Kleene Wacht kam. Er sagte nicht warum und wieso, nur schien er sehr begierig zu sein, das Mädchen zu fangen. Und trotz der glücklichen Abwehr von ihm und seinen Männern, durfte man davon ausgehen, dass er nicht der letzte war, der sich Leevkes bemächtigen wollte. Bald schon würden andere kommen, welche, die nicht so leicht abzuwimmeln waren.

„Natürlich werden wir dich beschützen, so gut wir es können, aber ich befürchte es ist hier nicht mehr sicher für dich, Seestern.“, meinte Enno schließlich mit trauriger Miene. Leevke sagte eine Weile lang nichts. Schließlich hob sie hilfesuchend den Blick: „Also seit ihr gar nicht meine Großeltern?“ Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Doch, natürlich sind wir das. Werden wir immer sein.“, meinte Oma Hampke und nahm Leevke fest in den Arm und schaukelte sie wie ein Baby. Enno und Hinni waren beide etwas sprachlos und suchten nach Lösungen für die Situation. Schließlich meinte Leevke entschlossen: „Ich will diese Kräfte nicht. Sie bringen nicht nur mich, sondern auch euch in Gefahr. Dafür will ich nicht verantwortlich sein. Vielleicht sollte ich mich einfach selbst aushändigen...“ „Einen Seeteufel wirst du tun!“, meinte Enno empört, „Mein Kind wird sich nicht irgendwelchen Halunken unterwerfen. Du bist Friesin, ganz egal wo du ursprünglich wegkommst, du gehörst jetzt zu uns! Und ein Friese beugt sich niemandem, höchstens dem Kaiser, oder Gott. Und selbst dass nur, wenn es nötig ist.“ Hinni fügte hinzu: „Und außerdem möchte ich nicht wissen, was so einer wie Theo mit deinen Kräften vorhätte, Leevke. Ich habe die Flutwelle gesehen, die ihn und seine Männer fortgespült hat. Wenn er diese Macht hätte, würde er sie mich Sicherheit nicht zum Wohle der gesamten Friesenheit einsetzen.“ „Hört, hört!“, stimmte Enno mit ein. „Aber was soll ich dann tun?“, stellte Leevke die wohl wichtigste Frage ihres bisherigen Lebens. „Deine Kräfte loswerden, wie du schon sagtest.“, meinte Hinni. „Ich weiß zwar noch nicht wie, aber es muss möglich sein. Am besten wir fragen jemanden der sich mit sowas auskennt.“ „Denkst du an jemanden bestimmtes, Junge?“, fragte Oma Hampke hoffnungsvoll. „Ähmm...öhmmm... ein Priester vielleicht? Oder ein Zauberer – eine echte Hexe! Solche Typen. Oh! Wir könnten auch meinen Meister fragen, Meister Abbo!“ „Der Aufmüpfige?“, fragte Enno und wirkte dabei nicht sonderlich glücklich über die Nennung dieses Namens. Hinni verteidigte seinen Mentor jedoch tapfer: „Er ist ein guter Mann, der schon viel herumgekommen ist. Er weiss sicher Rat. Ich vertraue ihm mein Leben an.“ Leevke wirkte unentschlossen: „Ich weiss nicht recht.“ Doch Enno und Hampke redeten ihr gut zu, dass sie es versuchen sollte. Sie könne natürlich auch bei ihnen bleiben, aber das wollte wiederrum Leevke nicht. Die Großeltern boten sogar an, mit ihr zu kommen, aber auch das lehnte Leeke entschieden ab. „Ihr müsst den Leuchtturm in Gang halten und ich will nicht, das ihr Meinetwegen in Gefahr geratet. Nein, dass will ich wirklich nicht. Außerdem seit ihr fürs Reisen schon zu alt.“ Alle lächelten weil Leevke das offensichtlichste benannte. Nun wandten sich die Pultjens, denn so nannten sie sich mit Nachnamen, alle Hinni zu. „Würdest du unseren Seestern mit nach Norddeich nehmen?“ Hinni schlug sich auf die Brust und im herorischen Ton verkündete er : „Ich werde sie nicht nur das Norddeich bringen, sondern ihr auch helfen ihr Problem zu lösen! Außerdem weiss ohnehin nur ich wo man Meister Abbo finden kann.“ „Das es solche tapferen Jungen noch gibt.“, meinte Oma Hampke schwärmerisch und mit Seitenhieb gegen ihren Mann fügte sie hinzu: „Ich kannte auch mal jemanden der genauso war.“ Alle lachten nun, und es war wie ein Befreiungsschlag für die trübliche Stimmung. „Kann ich heute Abend mit Hinni im Leuchtturm übernachten?“, wollte Leevke schließlich wissen. Hinni lief rot an, bei dem Gedanken mit dem Mädchen allein in einem Zimmer zu schlafen. „Natürlich. Nehmt euch alle Zeit der Welt für – die Vorbereitungen.“ Hinni glaubte ein wissendes Lächeln auf Oma Hampkes Gesicht zu erkennen, aber er selbst war sich nicht ganz sicher ob es nun ein gutes oder gar ein schlechtes Omen war. Opa Enno führte sie zum Leuchtturm und eine Wendeltreppe hinauf. Im ersten Stock befanden sich tatsächlich zwei einfache Betten und ein Fenster mit Holzläden. Der hölzerne Boden knirschte unter ihren Füßen. „Macht es euch bequem, ich muss oben noch das Licht erneuern.“, meinte Enno und stapfte die Treppe nach oben hinauf. Klütje tapste schnüffelnd umher als Leevke Hinni in die Arme nahm: „Danke, dass du mir hilft. Ich wüsste nicht was ich sonst tun sollte.“ „Ach, hehe, dass ist doch kein Problem...“, meinte Hinni und klopfte ihr kumpelhaft auf den Rücken. „Wie viel willst du denn dafür haben?“, fragte sie und ihr Gesicht hing nun direkt vor dem seinigen. Ein spontaner Klos im Hals erschwerte Hinni die Formulierung, aber er brachte noch ein: „Kaum“ hervor. „Kaum? Kaum was?“ „Also ich meine, nichts. Eigentlich nichts.“ Er schaffte es sich aus Leevkes Umarmung zu lösen und wirbelte hinüber zum Fenster: „Ich mache dies für das Abenteuer! Endlich ein Grund die Welt zu erkunden, ferne Orte zu sehen und wundersame Dinge zu erblicken!“ „Ich hoffe nicht, dass es uns allzu weit von zuhause wegbringt. Ich für meinen Teil bin gerne zuhause. Am Meer, meine ich.“ Hinni bemerkte, dass er sich anhörte, als wolle er Leevke und ihre Not nur für seine persönlichen Abenteuergelüste missbrauchen. „So meinte ich das auch nicht, jedenfalls nicht – ach, ich will nur endlich weg von hier. Kannst du zumindest das etwas verstehen?“ Leevke ließ sich neben ihm auf ein Bett plumpsen: „Nicht wirklich. Aber vielleicht wird es ja wirklich lustig.“ „Natürlich werde ich dich vor allen Gefahren beschützen.“ „Du klingst ja fast wie einer dieser Ritter.“ „Du kennst Ritter?“ Leevke zuckte mit den Schultern: „Nicht wirklich, aber manchmal war einer im Gasthaus auf Norderney und erzählte dort von seinem Leben. Besonders wenn man ihm ein paar Bierchen extra anbot.“ „Ihr Insulaner...“, meinte Hinni verschmitzt. „Morgen werden wir nach Norddeich zurückkehren und dann sehen wir weiter. Wir werden wohl erst nach Hof Wiards zurückkehren, um meinen Leuten davon zu berichten.“ „Ist gut.“, stimmte Leevke ohne weiteres zu. Sie zog ihre Beine an und rollte eingekugelt auf dem Bett hin und her. „Was machst du da?“, murmelte Hinni. „Rumkullern.“, sagte Leevke lapidar und kullerte munter weiter hin und her. „So.“, meinte Enno und kam die Treppe hinunter, „Ich habe das Feuer erneuert und werde jetzt in die Hütte gehen. Solltet ihr noch irgendwas brauchen scheut euch nicht anzuklopfen oder uns aufzuwecken.“ „In Ordnung, Opa. Krieg ich einen Gutenacht-Kuss?“ In Anwesenheit von Hinni zögerte Enno etwas, aber seine Liebe zu Leevke überwog mit Leichtigkeit und er verpasste ihr einen Schmatzer auf die Backe. „Gute Nacht, Seestern. Und gute Nacht, Hinnerk.“, meinte er und verließ den Turm. Leevke kullerte wieder und Hinni probierte es auch aus. Kurz darauf kullerten beide in ihren Betten. „Hey!“, meinte Hinni. „Das macht ja Spaß.“ Leevke kicherte, „Hilft mir immer beim Einschlafen.“ Hinni lachte auf. Als sie endlich lagen blickten sie sich aus ihren Decken aus an. Ein Bein von Leevke baumelte unter der Bettdecke hervor. Sie lächelte und ihre Hinni schlief erstaunlich schnell ein, aber nach den Ereignissen der vergangenen Tage war dies auch kein Wunder.